Essay anlässlich der Uraufführung von „was noch.“ von Michael Reudenbach.
„Falls ich die Zwölftonmusik nicht erfunden hätte, hätte es jemand anderes gemacht“, schrieb Schönberg im Jahr 1909 an Busoni.
Glücklicherweise wartete Schönberg nicht darauf, dass “jemand anderes” es tun würde, denn vielleicht hätte dann auch dieser “jemand anderes” gewartet, und letztendlich hätte es niemand erfunden. Ideen entstehen oft gleichzeitig in vielen Köpfen, daher lohnt es sich, sie zu entwickeln, zu formulieren und zu verfeinern, in der Hoffnung, dass, wenn wir etwas erfinden, es auch jemand anderes tun wird.
Ich schreibe im Glauben daran, dass in diesem oder anderem Moment jemand andere ähnliche Beobachtungen vielleicht geschickter als ich beschreibt. Und wenn ich jedoch die Einzige bin, die das bemerkt, was ich bemerke, und das, was ich sehe, nur meine Fantasie ist, werde ich mein Bestes tun, um die Worte geschickt zu verweben, um das Interesse des Lesers an einem rein hypothetischen Problem zu erwecken.
In diesem Essay möchte ich zwei verschiedene Meinungen zu einem bestimmten Konzert beim Eclat Festival 2024 in Stuttgart gegenüberstellen und dann einen, in diesem Fall meinen, aber vielleicht nicht nur meinen, Standpunkt beleuchten.
Zunächst lade ich Sie ein, den Ausschnitt aus meiner eigenen subjektiven Rezension des Festivals zu lesen, gefolgt von einer fremden, ich weiß nicht, ob weniger subjektiven Rezension: der Musikjournalistin Susanne Benda, die für die Stuttgarter Nachrichten schreibt.
„Stuttgart. Eclat Festival. 03.02.2024. 19:00. Theaterhaus. SWR-Konzert „Jetztmusik in Eclat“ des SWR-Vokalensembles unter der Leitung von Michael Alber. Alle Plätze ausverkauft. Eine lange Warteliste für zusätzliche Tickets. Das diesjährige Festival der Neuen Musik erfreut sich großer Beliebtheit. Fachpublikum – Musikjournalisten, Musik-Kuratoren, Musiktheoretiker, Musikwissenschaftler, Musiker, Komponisten und Musikliebhaber (…)
Das Konzert beginnt mit dem Stück „Shallow Grave“ von Liza Lim, in dem Marco Blaauw auf einem rekonstruierten neolithischen Keramikhorn und einer Trompete geschickt und charismatisch bläst und singt. Die Auswahl der Instrumente und Spieltechniken lässt an anthropologische und instrumentelle Wurzeln sowie an die Verbindung zwischen dem Urzeitlichen und dem Modernen denken. Die musikalischen Ideen der Komponistin sowie der Klang sind jedoch weder innovativ noch besonders interessant, aber sicherlich korrekt. Im nächsten Stück „Nun Nacht“ von Mia Schmidt führt der Chor, eine Obertonsängerin, ein Mikroton-Cembalo und ein Marimbaphon ein akustisch unausgewogenes Werk vor, bei dem die guten Absichten und Ideen der Komponistin erkennbar sind, doch die formal-ästhetischen Absichten und Beziehungen nur schwer erkennbar bleiben. Das Stück verbindet klanglich und assoziativ voneinander sehr entfernte Tonerzeuger und Tonsysteme. Es ist auch schwierig, eine Antwort auf die Frage zu finden, welche Rolle das mikrotonale Cembalosummen in dem Stück spielt oder ob die eklektische Verbindung von Neuem und Altem, Westen und Osten, klassischer Musik und Volksmusik nicht vielleicht doch einen multikulturellen Kitsch der zeitgenössischen Musik erzeugt, der in einer Oase von Menschen mit höherem Bewusstsein – Freiburg – entstanden ist? Trotz aller Kritik muss jedoch ein sinnvoller kompositorischer Umgang mit Klangvibrationen geschätzt werden: die vielfältige Verwendung von ausgebildetem Vibrato in der Stimme, das völlige Fehlen davon im Obertongesang und die Kombination von Chorvibrato mit Marimbawirbel. Entgegen der Ankündigung des Stücks übernimmt die Rolle der Solistin Marimbaphonistin Leonie Klein, die das Publikum mit ihrem Engagement, Ausstrahlung und ihrer musikalischen Sensibilität überzeugt.
Im dritten Stück „Contemplate Moments of Silence and find them few“ von Aaron Halloway Nahum amüsieren Marco Blaauw an der Trompete und der Bariton Ty Bouque das Publikum mit lustigen Unisoni, gegenseitigen Imitationen und klanglicher Kohärenz. Leider überlagert das übertriebene schauspielerische Spiel von Ty Bouque, das an die Ekstase der Youtuber-Influencer erinnert, die ziemlich interessante Komposition und macht sie zu ziemlich öder Unterhaltung.
Nach diesem Stück betreten die Techniker die Bühne. Eine Gruppe von energischen Männern räumt die Bühne von Instrumenten, Notenständern und vielen Kabeln und Stativen leer. In der Mitte verstecken sie unter einem Stück schwarzen Molton ein flaches, geheimnisvolles Mikrofon. Das Publikum erwartet die Aufführung eines seit vier Jahren komponierten Stücks, das vom SWR in Auftrag gegeben wurde und mit zweijähriger Verspätung fertiggestellt wurde: „Was noch.“ von Michael Reudenbach für 24 Stimmen mit Texten von Jürgen Becker.“
Es scheint mir, dass die Zeit, die der Komposition dieses Stücks gewidmet wurde, und die Mühe der Einstudierung meinen ausführlichen Bericht mit einer detaillierteren Beschreibung rechtfertigen.
„Als der letzte Techniker die Bühne verlässt, entsteht vor vollem Auditorium eine Leere. Schwarze Bühne, schwarzer Boden, die schwarzen Vorhänge an den Wänden werden sichtbar, während die “zweijährige Verzögerung” verlängert wird. Die Stille der Erwartung verwandelt sich in ein Flüstern, ein Rascheln und wachsende Unruhe. Das “avantgardistische” Publikum kann nur wenig mit der Langeweile und unerwarteten Ereignissen anfangen. Der Applaus ungeduldiger Zuschauer versucht, die Künstler auf die Bühne zu bringen. Doch zum allgemeinen Amüsement leuchtet nur im Publikum das Licht auf, das schließlich erlischt. Der Vorhang öffnet sich endlich. Der Chor betritt die Bühne. Die Darsteller stellen sich wie Schachfiguren in sechs Spalten, vier Reihen, jeder einzeln, konventionell, nicht spektakulär gekleidet, in Schwarz – schwarze Hosen, schwarze Blusen, schwarze Anzüge mit weiß hervorstehenden Unterhemden an den Hälsen.
Die Konventionalität der Kleidung und die nicht-instagrammäßige Ernsthaftigkeit brechen mit der herrschenden Konvention des Festivals. Die den Zuschauern zugewandten Gesichter verraten Spannung. Sie künden von Mühe. Die vielfältige Schwarzheit betont die Diversität der Formen, Haare, Gesichter, des Alters und der Persönlichkeiten. Die gleichmäßige Verteilung im Raum und der ziemlich große Abstand zwischen den Mitglieder:innen des Ensembles heben die Vielfalt der Individualitäten aus der Masse hervor. Das Fehlen eines Dirigenten überlässt die Verantwortung den 24 Einheiten. Jede von ihnen hält in ihren Händen einen dicken und recht schweren Stapel weißer Karten mit individuellen Anweisungen.
In intensiver Konzentration von der rechten Seite der Bühne kommt das erste Wort „kauend“ und öffnet den virtuellen Zeitraum der Vokale, Silben, kollektiven und individuellen Klänge, Schwingungen, Nuancen der Farben, mehrdimensionalen räumlichen Töne, Akkorde, absteigende Skalen, der bedeutenden, wenn auch sparsamen Bewegungen. Vokal-sprachliche Sequenzen werden 87 Mal durch ein energisches Rascheln und ein dynamisches Bild des Karten-Umschlagens unterbrochen – immer synchron, aber nicht ganz gleichzeitig und optisch nicht einheitlich. Diverse Gesichter lesen den Inhalt jeder Karte und geben manchmal einen Ton oder eine Phrase wie “tasseschwenkend” wieder, eine Silbe, die mit einem langgezogenen Moment des Abbruchs endet, eine Silbe oder einen Laut, der das Wort oder Klang von anderswo fortsetzt. Manchmal findet eine oder mehr Personen auf ihrer Karte eine Anforderung zur Wendung um 90 Grad nach rechts oder links, was verschiedene Konstellationen von Angesicht zu Angesicht, Seite zur Seite und Rücken zu Rücken, Rücken zu einem oder drei Gesichtern usw. verursacht.
Plötzlich stehen alle einen Moment mit dem Rücken zum Publikum und lassen den Klang im Vorhang vergehen. Ein anderes Mal führt eine Vierteldrehung von einem scheinbaren Chaos alle geschlossenen, offenen oder sich bewegenden Münder zu den Zuschauern. Im Laufe des Stücks kommt es vor, dass nach einem “Nichts” ein weiteres „Nichts“ und manchmal noch ein weiteres „Nichts“ folgt.
Die Bewegung der Kartenblätter und Vierteldrehungen sind vollständig integriert als gestaltende musikalische Elemente, die Zeit, Agogik, Dynamik, Klangfarbe und akustischen Raum formen. Die ausgewogene Form fasziniert den sensiblen Zuhörer mit ihrer spürbaren Schönheit mathematischer Strukturen und den unvorhersehbaren, aber trotzdem erkennbaren kompositorischen Verfahren. Der Raum des Werks durchdringt die metaphysische Schönheit der Primzahlenfolgen.
Die absolute Struktur, die in der Luft schwebende Atmosphäre von Arbeit, Anstrengung und Ernsthaftigkeit, lässt jede Sängerin und jeden Sänger mit ihrer individuellen Stimme glänzen. Die im Raum verteilten und die Richtung wechselnden Klänge betonen die Einzigartigkeit der Stimmen bei gleichzeitiger Wahrung der Gesamtheit. Es entsteht ein Oxymoron – ein solistischer Chor.
Die Reduktion und Klarheit bilden ein virtuelles Mikroskop und Teleskop, das einen tieferen Einblick ermöglicht und die Wahrnehmung fokussiert. Doch das Erkennen von Nuancen, Komplexität und Reichtum der Mikro- und Makro-Räume erfordert die Fähigkeit zum aktiven Hören, Schauen und Sehen, Scharfsinn, die Fähigkeit zum selbständigen Schlussfolgern und langanhaltende Konzentration.
Der Konzertsaal lässt aufgrund seiner Akustik viele Wünsche offen. Daher bieten wahrscheinlich nur die vorderen Reihen ein vollständiges Hörerlebnis. In unmittelbarer Nähe zur Bühne kann jedoch der Zuhörer völlig in die dynamische Fülle und Plastizität des Klangs eintauchen. Meisterhafte Darbietung und künstlerische Unnachgiebigkeit erfordern vom Publikum volle Beteiligung, unbequeme Ernsthaftigkeit und Respekt vor der Kunst. Im Gegenzug wird dem jedoch eine Erfahrung geboten, die immer seltener in der aktuellen Kunst zu finden ist: Sorgfalt, Vielfalt im Detail, Klarheit komplexer Formen und Wahrheit.
Der Komponist, der bisher hauptsächlich akustische Werke geschrieben hat, hat dieses Mal ein intermediales Werk erschaffen, das Musik, Theater, bewegtes Bild sowie ein Konzept sind und sowohl in realer als auch virtueller Zeit und Raum existiert (ausgeliehener Begriff der Kunstphilosophin Susanne K. Langer). Durch die erhebliche Reduktion der Mittel wird der gesamte Beziehungsreichtum des Werks offengelegt, was an die Kriterien der musikalischen Analyse und Werturteilstheorie von Carl Dahlhaus erinnert.
Die Komposition erlaubt eine Freiheit der Interpretation, gibt dem Zuschauer Zeit, innere Fragen aufkommen zu lassen, und berührt unweigerlich zeitgenössische Probleme. Wie jedes gute Kunstwerk zeigt es bestimmte Wahrheiten, zu denen der Schöpfer mehr oder weniger bewusst durch sein eigenes Genie oder durch seine mühsame und selbstkritische Arbeit gelangt ist.
Während des Erlebens von “was noch.” kann man verschiedene Interpretationen hegen, z.B. die Darstellung eines würdigen Bestehens im sozialen System oder die Problematik der Diversität. Man kann aber auch einfach die sublimierten Emotionen erleben, die durch Worte, Klänge, Bilder, Beziehungen und durch die Präsenz der Darsteller dank Empathie vermittelt werden.
Das Kunstwerk als Verwirklichung eines schöpferischen Gedankens kann den Glauben daran stärken, dass ein menschlicher Kopf in der Lage ist, immer aufs Neue einen Sinn zu erfinden und Welten zu schaffen. “Was noch.” kann andere Komponisten und Kulturschaffende darin bestärken, dass trotz Behauptungen vieler – das “Ende der Kunst” noch nicht eingetreten ist! Es ist ein Beispiel dafür, dass die Erschaffung von etwas Neuem, Bewegendem und vollständig Ernsthaftem im Dienste der Kunst durch große Anstrengung, Zweifel an der eigenen Unfehlbarkeit und ständige kritische Betrachtung der eigenen Arbeit möglich ist.
Die Komposition “Was noch.” ist ein eigenständiges Wesen, das der Zuschauer, wenn er will oder dazu in der Lage ist (mit entwickelter Wahrnehmung), treffen kann. Es ermöglicht einigen, etwas mehr zu erleben, die bisherigen Grenzen des eigenen Selbst zu überschreiten, eine Wahrheit zu erfahren, die Befriedigung eines der grundlegenden menschlichen Bedürfnisse zu spüren: das sublimierte ästhetische Empfinden, das für einige das erkämpfte Recht auf einen Orgasmus übersteigen kann.
Das Ende des Stücks kam plötzlich, obwohl es hätte weitergehen können. Es endete jedoch genau zur richtigen Zeit, für einige zu früh, für andere viel zu spät. Viele Zuschauer applaudierten aus Pflichtgefühl, viele jedoch aus Begeisterung. Zeitgenössische Musik ist nicht für jeden geeignet, gute Kunst erscheint nicht jedem sofort als gut. Ihre Identifizierung erfordert Schulung und Arbeit des Empfängers an der Sublimierung der Rezeption, erfordert Konzentration, Erfahrung und jahrelange Übung.
Die Kunst von Reudenbach spricht eine Minderheit an und unterscheidet sich erheblich von den neuesten Trends in der kommerziellen Kunstwelt, die oft Selbstironie praktiziert, ihren eigenen Wert in Frage stellt, ihr Recht auf Existenz und öffentliche Finanzierung sowie ihre Funktionen auf belanglose Unterhaltung, Glanz, Selbstwerbung von Künstlern, Geschäftstätigkeit, kulturelle Bildung oder Propaganda modischer zeitgenössischer Ideen reduziert.
Und jetzt präsentiere ich dem Leser einen Auszug aus einer anderen, professionellen Rezension aus dem Artikel “Musik, die raus muss” vom Eclat-Festival in Stuttgart von Susanne Benda vom 04.02.2024: (Link zum vollständigen Artikel): https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.eclat-festival-in-stuttgart-musik-die-rausmuss.1d4a879f-ccc0-4af8-a388-c1ec9319bc2a.html)
(…) „Das Konzert des SWR-Vokalensembles beginnt mit zwei Instrumenten, in die Marco Blaauw so hineinbläst, dass sie zu singen und zu sprechen beginnen: ein nachgebautes neolithisches Keramikhorn und eine Trompete (in Liza Lims „Shallow grave“). Später wird Blaauw noch gemeinsam mit dem stimmlich wie darstellerisch wunderbar wandelbaren Bariton Ty Bouque in Aaron Halloway Nahums „Contemplate Moments of Silence and find them few“ einen paradiesischen Klangspielplatz erobern. Dann aber der Chor. Michael Reudenbachs „Was noch“ schreibt jedem der mit Click-Tracks geleiteten, in Reihen aufgestellten Singenden einen eigenen Standort und eine eigene Choreografie der Vierteldrehungen vor. Die finden in den Generalpausen zwischen Klangmomenten statt, die aus gemeinsam gesungenen Akkorden und parallel dazu gesprochenen Textsilben aus Werken Jürgen Beckers bestehen. Die Einstudierung (Michael Alber) dürfte viel Zeit und viele Nerven gekostet haben. Das Vokalensemble singt und spricht sehr präzise. Das Stück ist aber trockene Materie – und viel zu lang.
Entschädigung dafür gibt’s bei Mia Schmidt, die das Kollektiv in „Nun Nacht“ nicht nur mit einem Marimbafon, sondern auch mit einem Vierteltoncembalo zusammenbringt. Und mit der Obertonsängerin Anna-Maria Hefele. Ganz besonders ihr Zutun, dessen physische Entstehung man (magisch!) kaum wahrnimmt, sorgt dafür, dass die zunächst wahrgenommenen Gegensätze zwischen reinen und unreinen Tönen, Konsonantem und Dissonantem mehr und mehr zerfließen. Schöne neue Welt!“
Im weiten Netz der digitalen Welt fand sich allein der oben genannte Bericht über das Konzert. Bemerkenswert ist, wie die Verfasserin ihren Beitrag mit den Worten “Schöne neue Welt!” endet. Könnte es sich hierbei um einen freudschen Versprecher handeln? Faszinierend ist zudem, dass diese Assoziation ausgerechnet die Bilder aus Aldous Huxleys Dystopie gleichen Titels heraufbeschwört! Solcherlei Artikel wie der genannte sind längst keine Seltenheit mehr, sondern vielmehr eine Norm. Immer häufiger bin ich Zeuge der Bestrebungen von Kulturschaffenden, Journalisten und Kuratoren, das breite Publikum zu erreichen. Seit der Pandemie in Deutschland, dem Land der großen Meister Bach, Beethoven und Stockhausen, ist es in gutem Ton, die Nützlichkeit der Kunst und ihre Relevanz für die Gesellschaft und Politik zu demonstrieren. Doch immer seltener stoße ich auf Artikel und Veranstaltungen, die schlicht und einfach „nur“ die Kunst feiern, ohne tiefere Bildungsabsichten zu verfolgen.
Die Plakate, die künstlerische Ereignisse ankündigen, und die Begleittexte zu Konzerten und Ausstellungen sind übersät mit bedeutungsschwangeren Schlagwörtern, wovon eines stets die Vielfalt ist, meist unter dem englischen Wort “Diversity”. Die Thematik der Vielfalt ist in der Kunst von derartiger Wichtigkeit, dass sogar das Podium Gegenwart des Deutschen Musikrats im Herbst 2023 in Berlin ein Symposium und Konzerte unter dem Titel “Diversity in der Neuen Musik” veranstaltete. Eines jener Konzerte durfte ich besuchen, und diese Erfahrung regte mich zu ausgiebigen Reflexionen an:
Wörter wie Diversität, Toleranz und Freiheit tragen bedeutungsvolle, sich ergänzende humanistische Ideen in sich, die geschützt und stets von Neuem verteidigt werden müssen. Es genügt nicht, sie bloß oft und laut auszusprechen; vielmehr bedarf es einer fortwährenden Prüfung des persönlichen Verständnisses ihrer Bedeutung, um sie wahrhaftig umsetzen zu können.
Zu Beginn meiner Überlegungen erlaube ich mir folgende Definitionen vorzuschlagen:
Freiheit ist jenes Gut, ohne das nicht jeder Mensch leben kann. Aus der Geschichte ist uns bekannt, dass mancher lieber einen letzten Akt der Freiheit vollzogen hat, indem er sich dem Tod ergab, als in geistiger oder körperlicher Knechtschaft zu verharren, etwa unter Zensur. Freiheit bedeutet, wahrhaftig mit sich selbst sein zu dürfen; sie verleiht das Recht, die eigenen freien und unabhängigen Gedanken zu äußern. Doch Freiheit ist mitunter eine Bürde, da sie Verantwortung mit sich bringt und oft auch Einsamkeit. Vielleicht daher bevorzugen viele die Sicherheit einer Knechtschaft. Freiwillige Unterwerfung mag eine Art Freiheit sein, während unfreiwillige oder unbewusste Knechtschaft meistens zu psychischen Störungen führt.
Toleranz bedeutet, zu tolerieren, und tolerieren heißt, etwas oder jemanden trotz Abneigung zu ertragen. Toleranz beinhaltet keineswegs Zustimmung, sondern lediglich die Akzeptanz für die Freiheit und Daseinsberechtigung dessen, mit dem man nicht übereinstimmt.
Diversität im sozialen Kontext bedeutet die Möglichkeit des gleichzeitigen Bestehens von Verschiedenheit: verschiedenen Weltanschauungen, verschiedenen Lebens-, geistigen und ästhetischen Bedürfnissen, verschiedenen Lebensideen, verschiedenen Glaubensrichtungen, verschiedenen Hautfarben, verschiedenen Geschlechtern oder verschiedenen sexuellen Orientierungen. Für die Idee der Freiheit, für menschliche Entwicklung und das gesellschaftliche Gleichgewicht ist Vielfalt von entscheidender Bedeutung. In der Natur ist Vielfalt einfach da. Sie liefert nicht nur Schönheit, sondern bildet auch die Grundlage des Lebens in verschiedenen Ökosystemen. Komplexe, vielfältige Organismen von Tieren und Pflanzen benötigen unterschiedliche Nahrungsmittel und Lebensbedingungen zum Überleben. Vermutlich ist es gerade durch die Vielfalt entstanden, was großartig und einzigartig ist, auch unter Menschen. Das Wort “Diversität”, ähnlich wie andere wichtige Begriffe wie Liebe, Gerechtigkeit oder Güte, ist weit und breit in seinem gesamten Bedeutungsspektrum zu verstehen. Daher halte ich es für unangebracht, es auf Geschlechter oder Hautfarben zu beschränken. Ich wage sogar zu denken, dass das Nachdenken über Ideen oder die Sensibilisierung für die Mehrdeutigkeit von Begriffen mehr zum gesellschaftlichen Reifeprozess beitragen würde als ihre Beschränkung, die oft zu Radikalisierung und Konflikten führt.
Ist übermäßiges Betonen der Hautfarbe manchmal nicht auch rassistisch? Schließlich sollten Hautfarbe, Geschlecht oder sexuelle Orientierung keine Rolle spielen, wo sie nicht relevant sind. Die Bevorzugung aufgrund von Geschlecht oder Hautfarbe kann manchmal die Ideen von Rassisten und Chauvinisten fördern und diejenigen verletzen, die von Ungerechtigkeit betroffen sind.
Es ist notwendig, die Geschichte zu überdenken und sie in all ihrer Komplexität zu verstehen, um aus Fehlern zu lernen und sie nicht zu wiederholen. Dies betrifft insbesondere das Verhalten von Massen, das oft leicht manipuliert wurde. Meist waren es jedoch schließlich die sehr, sehr viele Individuen, die im Namen erhabener Ideale wie Gleichheit erlaubten, dem Samenkorn der Gewalt in ihren eigenen Herzen üppig zu blühen.
Es erscheint mir als Fehler, kollektiv für die Fehler anderer zu büßen. Diese kollektive Reue verklärt oft aktuelle Verfehlungen und verzerrt manchmal sogar die Geschichte durch Vereinfachungen. Die heutige Ungerechtigkeit kann nicht als Ausgleich für die gestrige Ungerechtigkeit dienen. Daher glaube ich, dass die Beschränkung oder sogar die Vereinnahmung eines so wichtigen Themas wie Diversität in einfache Slogans schädlich sein kann, auch für die Vielfalt, die das Geschlecht oder die Hautfarbe betrifft.
Um die Diversität zu fördern, ist nicht nur die Freiheit und Toleranz einzelner, sondern auch von Gruppen und Traditionen, die in gewisser Hinsicht homogen sind, erforderlich. Diese Gruppen entstehen aufgrund verschiedener Faktoren wie Wohnort, klimatische Bedingungen, Beruf, Kultur, Erziehung, Nationalität, Religion, Bildungsstand, Hobbys oder individuellen Neigungen und Vorlieben. Entgegen dem Anschein verdanken wir gerade solchen spezifischen Gruppen und Untergruppen die Vielfalt der gesamten Bevölkerung.
Der Mensch ist ein soziales Wesen und sehnt sich nach einer Gemeinschaft, die sich als etwas Eigenständiges von anderen Gruppen abgrenzt. In Gruppen entstehen die notwendigen Bindungen, die den Einzelnen ein Gefühl der Zugehörigkeit und Würde vermitteln. Der Mensch benötigt Wurzeln, er muss seine Identität kennen und seinen Wert verstehen, um respektvolle Interaktionen mit anderen eingehen zu können.
Ein Konzept der Schaffung von nur heterogener* Gruppen würde höchstwahrscheinlich zur vollständigen Zerstörung der Vielfalt beitragen.
*In Anbetracht des Postulats, dass Vielfalt von Bedeutung ist, fällt mir auf, dass seit einigen Jahren nahezu jeder Film von Netflix oder einer anderen Streaming-Plattform zwangsläufig heterogene Elemente enthält. Unter den Hauptfiguren müssen Personen mit dunkler Hautfarbe, emanzipierte Frauen und Vertreter oder Vertreterinnen der LGBT-Community vorhanden sein. Natürlich ist dies zweifelsohne korrekt, doch es führt dazu, dass alle Filme einander zunehmend ähneln. Ein treffendes Beispiel hierfür bietet die Serie “The Witcher”, basierend auf den Büchern von Sapkowski und dem beeindruckenden Computerspiel, in dem der Spieler die Möglichkeit hat, die reiche Welt der alten Slawen mit ihren authentischen Kräutern, Legenden und Geräuschen zu erkunden. In der Serie beraubt die Anstrengung um heterogene Korrektheit die Welt des Hexers allem, was schön und originell ist, und schafft zum Beispiel dunkelhäutige Elfen und fremde dem Slawentum Rituale.
Ein ähnliches Phänomen offenbart sich auch in kulturellen und künstlerischen Projekten. Wenn überall Vielfalt nach bestimmten Standards gefördert wird, beginnt alles gleich auszusehen. Bei der Betrachtung von Vielfalt lohnt es sich stets, einen Blick auf Pflanzen und ihren Anbau zu werfen, insbesondere auf den natürlichen Anbau von Permakulturen, in denen Vielfalt entscheidend ist. Möchten wir einen Quadratmeter mit schönen Vergissmeinnicht, Bärlauch, Leberblümchen und Lerchensporn, sollten wir die Pflanzen nicht einzeln setzen, sondern mindestens zu dritt in Büscheln. Nur so haben sie eine Chance, gesund und kräftig zu wachsen. Für diejenigen, die nicht die Möglichkeit haben, einen Permakulturgarten zu beobachten, empfehle ich einen Besuch in einem Naturschutzgebiet, um dort die vielfältige Flora der Wälder, Wiesen oder Sümpfe zu bewundern.
Für diejenigen mit erhabenen Ansprüchen, sei es als Schöpfer oder Konsumenten von „hoher“ Kunst, existiert auch das Recht auf ihre eigene Gruppe, zuletzt immer wieder verächtlich als intellektuelle Elite bezeichnet.
Einige Menschen bedürfen einer Gruppe von Gleichgesinnten, die “Neue Musik” verstehen und schätzen, obwohl sie von manchen anderen als überintellektualisiert, “geruchlos” oder trocken betrachtet wird.
“Neue Musik” war (und ist vielleicht immer noch) weniger ein Genre als vielmehr ein musikalischer und philosophischer Diskurs seit etwa 1910 (Schönberg, Webern, Berg, Becker…). Etwas später trafen sich auch Persönlichkeiten wie Adorno, Dahlhaus, Cage, Stockhausen, Boulez, Nono, Feldman und viele andere, die Schöpfer dieser intellektuell anspruchsvollen Theorie und klassischen Musik, auf den “Internationalen Ferienkursen für Neue Musik” in Darmstadt.
Oh!? Ich habe vorhin die Bezeichnung “hohe Kunst” geschrieben! Darf man heute ein so beurteilendes Wort wie “hoch” verwenden?
Um Phänomene in unserem Bewusstsein zu verankern und sie verwenden zu können, müssen wir sie benennen. Es ist unerlässlich, eine Kunstform zu unterscheiden, die höchst anspruchsvolle ästhetische und intellektuelle Bedürfnisse befriedigt. Ich erlaube mir, eine weniger diskriminierende, ganz neutrale Formulierung für sie zu finden, zum Beispiel “blau” und für die andere Kunst die leicht zugänglich ist und alle erfreut „gelb“ damit, niemand sich beleidigt fühlt. Die Benennung von Dingen, die es gibt, ist notwendig für die Kommunikation und die Erhaltung der “Diversität”.
Im Streben nach Diversität in der Kulturlandschaft besteht JETZT die Notwendigkeit, die Minderheit zu schützen, die Kunst benötigt, insbesondere die “blaue”: blaue Musik, blaue Literatur, blaues Theater sowie blaue Diskussionen und blaue Streitgespräche über heikle Themen. Die “blaue Kunst” sollte zu unklaren und sogar komplexen Reflexionen anregen und nicht das bestätigen, was fast jeder schon weiß. Sie sollte ein Erlebnis bieten, das zur Besinnung führt und zu Überschreitungen inspiriert. Deshalb sollte sie unbequem sein, Diskurse initiieren, etablierte Konventionen in Frage stellen oder bewusst nutzen oder einfach nur an sich gut und anspruchsvoll sein.
Erlauben wir uns, uns einen Menschen vorzustellen, der sein ganzes Leben dem Verständnis der Kunst und der Sublimierung eigener Wahrnehmung gewidmet hat. Fühlen wir mit jemandem, der schmerzhaft erlebt, wie Musik seinen Körper gewaltsam in Bewegung versetzt oder ihm Tränen aus den Augen zwingt. Denken wir einen Moment lang darüber nach, dass es vielleicht jemanden gibt, der zu talentiert, zu empfindsam oder zu intelligent ist, um Freude an Banalitäten zu finden, oder jemanden wie mich, der von Kindheit an von blauer Kunst umgeben war, dargestellt als höchster Wert, dem man nachstreben und sein Leben anpassen sollte.
Die zuvor beschriebenen Individuen und ihre Mitstreiter bilden eine diskriminierte Minderheit im Vergleich zur Mehrheit, die nur die gelbe Kunst anerkennt. Doch auch jene, die das Blau atmen, haben das Recht zu existieren, und ihre grundlegenden Bedürfnisse sollten erfüllt werden.
In der internationalen Welt der zeitgenössischen Kultur stoße ich immer häufiger auf den Wunsch, die blaue Kunst in gelbe oder rein spekulative Kunst umzuwandeln, die von einer bestimmten Person oder Gruppe allein durch Definition geschaffen wird. Immer öfter ersetzen kuratorische Ideen die tatsächliche künstlerische Qualität und den Ausdruck der Urheber.
Immer öfter entscheiden Institutionen oder der Markt über den Wert der Kunst. Und doch, wenn ein Beamter, ein Spekulant oder eine Anzahl von Laien darüber entscheidet, was Kunst ist und was nicht, bedeutet das, dass Kunst als Idee oder Wert an sich nicht existiert, sondern nur eine Ware ist.
Immer wieder wird der Begriff Kunst zu einem enigmatischen kapitalistischen Konstrukt, das neue Arbeitsplätze und Geldfluss generiert. Dies ist wahrscheinlich das Ergebnis einer Inflation und Abwertung der Werte des 20. Jahrhunderts, der Überwindung aller Konventionen und Tabus sowie des Relativismus, der angesichts der Weltkriege und des Prozesses der Befreiung des Denkens und des Ausdrucks notwendig war.
Der Postmodernismus war jedoch, entgegen seinen Annahmen, weder das Ende der Geschichte des menschlichen Denkens noch das Ende der Kunst. Ich persönlich hoffe inständig, dass unser 21. Jahrhundert eigene Antworten auf das vergangene Jahrhundert und seine gegenwärtigen Herausforderungen finden wird, ohne sich in “Spekulation”, rückwärtsgewandte Sentimentalität, technologischen Kitsch oder in primitiven Zirkus und Kabarett flüchten zu müssen.
Ich kann geistige Faulheit, Hilflosigkeit, den Mangel an originellen Ideen der Künstler und den Rückgriff auf billige Parodie (die ich auch manchmal praktiziere) schwacher Komödie, Kritik oder ökologischer, antikolonialer oder pro-feministischer Missionierung verstehen (auch ich habe dies praktiziert und werde wahrscheinlich manchmal wieder dieser Versuchung erliegen).**.
** In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die Kultur in Deutschland derzeit durch ihr Finanzierungssystem nicht selten als Nebelkerze benutzt wird. Das heißt, wenn der Staat tatsächlich zu Lasten der Bürger, der Umwelt oder der Flüchtlinge handelt, fördert er gleichzeitig Kunstprojekte mit ökologischen, migrationsbezogenen Themen usw. Dies führt dazu, dass sich die Gesellschaft mit virtuellem oder persönlichem, spannungslösendem Engagement begnügt, ohne auf die Realität zu achten, und regierende zu kontrollieren. Der förderte Feminismus hingegen lenkt die öffentliche Meinung auf die Steigerung der Produktivität und nicht auf die reale Freiheit und Gleichstellung der Frauen, insbesondere der Mütter.
Zum Glück gibt es Kunst wirklich – diese blaue – unabhängig von Meinungen. Sie wird existieren, solange der Mensch existiert, empfindsam und denkend. Denn Kunst ist ein Wert an sich, etwas Ungreifbares, das man lernen muss wahrzunehmen. Ein Wesen, das sich offenbart, dem die Künstler dienen, und das ewig ein Ideal und ein Geheimnis bleibt.
Ich selbst erlebe immer wieder, wie frustrierend, unangenehm und widerwillig die Arbeit an Kunst sein mag. Doch wenn wir Künstlerinnen und Künstler anfangen würden, ruhiger und länger über das nachzudenken, was wir tun, das Recht hätten zu zweifeln und zu verzweifeln, und uns bemühten, unser großes “Ich” beiseite zu schieben und stattdessen nach der KUNST suchten und sie in unserem Herzen baten, sich uns zu offenbaren, würden wir dann nicht öfter auf originelle Ideen stoßen?
Vielleicht braucht der Mensch, durchdrungen von kapitalistischem Denken, allgegenwärtiger Lügen und weitverbreiteter Heuchelei, gerade solche Künstler, Werte und nicht banale, sondern ernsthafte und anspruchsvolle blaue Kunstwerke.
Die blaue Kunst wird benötigt, und jeder sollte Zugang zu ihr erhalten. Doch gleichzeitig, entgegen den zeitgenössischen Trends, sollte nicht jeder über ihre Qualität und ihren Wert entscheiden. Auch wenn wir das Wort Demokratie lieben und diese großartige Idee verteidigen, müssen wir zugeben, dass Kunst nicht demokratisch ist, denn ihre Wertigkeit kann nicht von der Mehrheit bestimmt werden.
Gute blaue Kunst, die der größte Schatz der Menschheit ist, die Gewissen formt, innerlich transformiert, die Seele heilt, Toleranz und unabhängiges Denken lehrt, indem sie die Wahrnehmung des emotionalen und sensorischen Empfängers sublimiert, wird politisch***. Die Begegnung mit ihr lehrt uns, Diversität im Detail wahrzunehmen und zu spüren, wo diese vielleicht gerade leidet oder stirbt.
*** Gegenwärtige deutsche (und wahrscheinlich nicht nur deutsche) Kulturförderinstitutionen legen großen Wert auf das politische Engagement der Künste. Die Erlangung von Geldern für die Umsetzung eines rein künstlerischen Projekts ohne Begründung seiner erzieherischen Relevanz oder ohne nicht selten heuchlerischer Weltrettung grenzt an ein Wunder.
Hier möchte ich die Worte des herausragenden Komponisten Hans Wüthrich aus dem Jahr 2000 in der Radiosendung Carolin Naujocks mit dem Titel „Musikalische Strategien für eine Musik des 21. Jahrhunderts“ https://www.deutschlandfunkkultur.de/hans-wuethrich-ueber-die-musik-der-zukunft-mich-fasziniert-100.html
„Das politische Engagement kann für mich weiter gefasst werden. Ich glaube, es lässt sich nicht bestreiten, dass wir gegenwärtig, kulturell, vor allem einer globalen Vereinheitlichung, Nivellierung und Verflachung zusteuern, schlimmer noch, also ich finde, wir haben zurzeit eine globale Diktatur des schlechten Geschmacks, eine globale Diktatur der geistigen Anspruchslosigkeit. Nur zu sagen, weshalb ich mich so aufrege über ein ästhetisches Problem. Ästhetische Probleme sind nur weiß Gott nicht die allerwichtigste, die wir haben, aber Ästhetik wird heute tatsächlich zu einem Politikum (…) ich glaube, dass in einer solchen Situation ist es auch eine Diktatur der Nivellierung und des “sich – anpassen – müssen´s”, und ich glaube, dass in solchem Zusammenhang – jedes eigenständige Denken und Handeln ein politischer Akt ist, dass jeder Künstler, der eigenen Dinge produziert, eigene Einfälle hat und diese realisiert – gegen alle Widerstände, dass ein solcher Künstler per se subversiv und politisch engagiert ist.“
Deshalb erscheinen mir die kuratorischen Bemühungen um Diversität seltsam, bei denen Künstler und ihre Werke oft als austauschbares Material behandelt werden, ähnlich wie Ton in den Händen von Veranstaltern und Sponsoren von Ausstellungen, Festivals oder Konzerten, oder als Image-, Finanz- oder politischer Wert. Persönlich empört es mich, Etiketten wie “Kunst” auf wenig vielfältige, modische Themen von nachlässiger Ausführung zu kleben.
Wenn ich in letzter Zeit Ausstellungen, Festivals oder Konzerte besuche oder mit Künstlern spreche, stelle ich fest, dass die meisten sich nicht vor der Majestät der Kunst verneigen. Im Gegenteil, sie denken, sie gehört ihnen, und sie können sie für ihre eigenen edlen Zwecke nutzen, um am Ende alle zu ihrem Glück zu zwingen. Fast jede künstlerische Veranstaltung hat das Ziel, jemandem gut zu tun, also tut sie Gut! Künstler und Kuratoren schwärmen sich gegenseitig an, lächeln, umarmen sich, machen Komplimente… Früher waren stehende Ovationen und “Bravo”-Rufe selten. Gelegentlich waren sie eine Reaktion des Publikums, das tief bewegt und erschüttert war. Heute ist ein üppiger Applaus eine gewisse Norm, ein Ritual, eine momentane Unterhaltung für das Publikum, eine Gelegenheit zur Selbstdarstellung, ein Dank an sich selbst für die Mühe des Sehens, Hörens, Lesens. Nun entscheidet doch jeder für sich selbst, was gut ist und was nicht, was Kunst ist und was nicht, was gute Literatur ist und was verbrannt werden darf. In einem solchen Kontext zeugt also schon die eigene Anwesenheit im Konzert von der Großartigkeit des Werks, denn alles, wofür man sich entscheidet und wofür man Geld und Zeit investiert, sei per se etwas Besonderes.
Wenn der Wert der Kunst allgemein eine Frage des Ermessens wäre, dürfte ich mich nicht wundern, wenn von den Rednerpulten der Konferenzen oder den Fluren der Festivals und Symposien immer lauter der Wunsch geäußert wäre, die Neue Musik möge endlich angenehm und für alle verständlich sein.
Nicht wundern sollte ich mich auch über die Versuche von Komponisten, Kitsch, vermeintlichen Ethno- oder Pop-Elementen in die “muffigen Konzertsäle” zu bringen. An dieser Stelle muss ich erwähnen, dass echte Kunst natürlich auch in authentischem Jazz, Pop, Folk oder Metal usw. zu finden ist, was aber nicht bedeutet, dass sie von einem Symphonieorchester aufgeführt oder auf Festivals für Neue Musik vertreten werden muss. Es kommt vor, dass ein Werbeplakat hochwertige konzeptionelle und visuelle Kunst ist, aber nicht alle Künstler müssen aus diesem Grund Werbeflyer produzieren und mit erfolgreichen Werbetricks aufwarten.
Kuratoren sollten schließlich für einen Platz für die Kunst kämpfen, der der einzige Raum ist, in dem eine Vielfalt von Themen, seien sie schön, trivial, schwierig oder sogar gefährlich, empörend oder im wirklichen Leben verboten, angesprochen und diskutiert werden kann und sogar sollte. Im Rahmen der Kunst gibt es also einen normfreien Raum für Polemik; dort, in der bewussten Fiktion, sollten Auseinandersetzungen und sogar leidenschaftliche Streitereien zwischen Künstlern und Publikum stattfinden. Scharfe Auseinandersetzungen um ästhetische Ansichten oder Ideen finde ich für die geistige Gesundheit der Gesellschaft notwendig.
Angesichts der globalen Radikalisierung, der Spaltung der Gesellschaften und der Verwischung aller Rahmen und Bezugspunkte treten aktuelle Meinungskämpfe an die Stelle theoretischer Auseinandersetzungen, und ein mangelndes Verständnis von Fiktion, Metapher und komplexen Zusammenhängen trägt dazu bei, die Wissenschaften zu unterminieren. Das Interesse an kontroversen, verschwörungstheoriefreien kreativen Diskursen und dem Streben nach Wissen durch blaue Kunst und Wissenschaft wird durch leicht verkäufliche neue buchstäbliche Wahrheiten verdrängt, die nicht die Mühen aufwendiger Denkprozesse erfordern.
Ich spekuliere, dass der moderne Mensch in Überlastung und immanenter Angst lebt angesichts der Herausforderungen, die ein sich erwärmendes Klima mit sich bringt; Katastrophen, militärische und soziale Krisen, bewaffnete, wirtschaftliche, hybride und Informationskriege, Einsamkeit, Probleme, die sich aus neuen Technologien ergeben, das Aufkommen von KI… Ich verstehe, dass es in einer Zeit, in der die Pferde der Apokalypse in den Stadtparks mit verdorrtem Gras grasen, schwierig ist, über Kunst zu sprechen! Es ist schwierig, nach ihr zu suchen und Fragen zu stellen. Auch wenn man aus der Literatur weiß, dass diese ewigen Pferde schon immer dort geweidet haben und die erwartete Apokalypse noch nicht eingetreten ist. Ich verstehe, dass jeder von uns eigentlich eine Streicheleinheit bräuchte. Ich beobachte, dass das unablässig verfügbare Internetwissen uns ein falsches Gefühl von Verantwortung und Handlungsfähigkeit vermittelt, das für den sich so langsam entwickelnden menschlichen Gehirn nicht erträglich ist. Ich vermute, dass dies der Grund ist, warum nur wenige in der Geschichte der menschlichen Seele, d. h. in der Kunst und der Literatur, nach Antworten und Trost suchen. Die Mehrheit begnügt sich mit der Vereinfachung, so wie Zusammenfassungen der Bücher. Die digitalen und anfassbaren Bücheregale sind voll von Schund, einfachen Krimis und Ratgebern mit klaren Regeln, wie man leben und wer man sein soll. Banale Richtlinien, Gesetze und Verbote verdrängen die persönliche Moral. Verloren und sehnsüchtig nach Einfachheit suchen wir nach einem klaren Ja oder Nein – die richtige Front, um zu zeigen, wo wir stehen wollen, um uns ein wenig Selbstfrieden zu gönnen.
Ich vermute, dass das allgegenwärtige Marketing und die Werbung, die nichts anderes als unerbittliche Lügen und Manipulationen sind, dazu geführt haben, dass unsere natürliche Fähigkeit zu unterscheiden schwindet. Es ist unabdingbar geworden, unsere eigenen Lügen zu erfinden oder auszuwählen, sie zu verteidigen und an ihnen festzuhalten, um uns zumindest zeitweise wohl zu fühlen. Es ist klar, dass der Durchschnittsmensch nicht mit der Vorstellung umgehen kann, dass er oder sie alles entscheiden kann, dass das Wohlergehen des Planeten und der Menschheit von seinen oder ihren persönlichen Entscheidungen und der Unterstützung der richtigen Seite abhängt. Die Täuschung besteht darin, dass eben nicht jeder alles kann! Nur einige können es, z.B. Musk oder Putin und Grebchenko nicht. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum jeder irgendwo tief im Innern die Wahrheit über seine Kleinheit spürt, und oft, anstatt sich dieser Wahrheit zu stellen, vor der Verantwortung in kindliche Regression flieht, mit dem Wunsch nun geliebt und akzeptiert zu werden und dass endlich alles wieder gut ist.
Mit Eifer suche ich, finde aber immer seltener Kritiken zu Ausstellungen oder Konzerten, die nicht im Dienste der eigenen Interessen, sondern aus Respekt und Bewunderung für die Kunst geschrieben sind. Konzertberichte ähneln politischen und sozialen Botschaften, Werbeslogans oder einer kurzen Beschreibung eines Produkts und einer einfachen Aussage darüber, wie sich der Kritiker oder die Kritikerin beim Besuch oder Zuhören gefühlt hat. Trotz der Betonung der Bedeutung der Diversität scheinen alle Kritiken einander sehr ähnlich zu sein, immer netter, immer einfacher und immer oberflächlicher.
Leider kann ich keine professionellen Kritiken schreiben, aber als Künstler, der versucht, sich nicht an der Kunst zu bedienen, sondern ihr zu dienen, habe ich mir die Freiheit genommen, diesen Essay zu verfassen, der wahrscheinlich nicht von vielen gelesen wird, weil er zu lang ist und zu viel „Zeit für sich selbst“ in Anspruch nimmt. Ich schreibe, weil ich das Verlangen spüre, Gedanken und Meinungen zum Ausdruck zu bringen, nach denen ich vergeblich im zeitgenössischen Diskurs suche.
Manchmal frage ich mich, wenn ich an ältere Fachkollegen wie John Cage, Morton Feldman, Karlheinz Stockhausen, Helmut Lachenmann, Luigi Nono, Hans Wüthrich und viele andere denke, die in ihrer Jugend der Bourgeoisie die Stirn boten, was würden sie heute tun? In welchen leeren Kellern würde man sie hören? Wogegen würde ihr Kampf gerichtet sein? (Vorausgesetzt natürlich, sie wären in der Zeit gereist und nicht in unseren technologischen Wohlstand hineingeboren worden).
In dem Moment, in dem jedoch viele dasselbe, das Ähnliche oder dessen Gegensätze (in der Auffassung von Hegel) vertreten, lohnt es sich vielleicht, über die Aktualisierung eigener Meinungen und Kreativität nachzudenken? Kritisches Denken im Stile Adornos bedeutet nicht, seine Gedanken zu kopieren, sondern sich in Bezug auf die jeweilige Situation einen Gegengedanken zu erlauben.
Abschließend möchte ich dem Postulat der Gleichsetzung nach unten entgegentreten.
Die Aufgabe der Kunst in allen Bereichen besteht darin, nicht ins Mittelmaß abzusteigen, sondern das Denken, die Sensibilität und den Humanismus an die Spitze zu heben, damit jeder, der will, vielleicht im ganz kleinen Freundeskreis, die Möglichkeit hat, die wunderbarsten weiten Aussichten aus dem blauen “Elfenbeinturm” zu genießen.
Teresa Grebchenko, Rathenow, den 29.02.2024
P.S. Dieser Text ist das Ergebnis vieler kunstphilosophischer Diskussionen mit Weronika Haber sowie Gespräche mit Justyna Koeke und vielen befreundeten Künstlern über den aktuellen Stand der Kulturpolitik in Deutschland. Es freut mich, dass viele meiner Freunde unermüdlich blaue Kunst anstreben.